M E N U I R – Eine Erzählung

PAUL GRUNDER, Teufen, anlässlich der Ausstellung BEHAUSUNGEN in der Galerie Juri vom 7.- 29.März 1998

„Zum Schluss unseres Rundgangs“, sagte die Fremdenführerin, sie legte dabei die Hand zärtlich auf einen der grossen Steinblöcke, „bleibt die Frage offen, wie überhaupt die Menschen vor 6000 Jahren diese schweren und riesengrossen Quader bearbeiten und zu Behausungen und Tempeln aufeinanderschichten konnten.“

Nun waren die Techniker und Wissenschafter gefragt. Sie meldeten sich auch zu Wort, jeder wusste es besser, jeder versuchte, den anderen zu übertrumpfen; eine Horde von wissenden Experten. Der eindrückliche Rundgang in den Tempelanlagen von Mehinur war beendet. Plappernd verabschiedeten sich die Reisenden, drückten der Führerin verstohlen und so, dass niemand sah wieviel, eine Opfergabe oder ein Trinkgeld in die Hand, strichen mehr mechanisch als zärtlich über die Steinblöcke und vor allem über die Bäuche, vor denen ihre Fotoapparate hingen, worin das gefangen und festgehalten war, was seit Jahrtausenden im gelben Wüstensand gesehen und bestaunt werden kann.

 

Mich lockte es nicht, im nahen Superimbisscenter das Gesehene zu begiessen und zu vergessen und so verdrückte ich mich hinter einer runden Steinsäule, um noch ein Mal und in aller Ruhe die imposanten Bauten betrachten zu können. Ein Wächter machte seinen Rundgang. Ich ging mit ihm um die Säule, jedoch blieb ich auf der anderen Seite stehen.

 

Das eiserne Tor zu den Ruinen wurde geschlossen und ich war gefangen. Ich hätte rufen können, aber ich rief nicht. Ich zog es vor, in dieser Gefangenschaft allein und frei zu sein bis zum nächsten Morgen. Was ist ein kurzer Abend, eine kühle Nacht und ein sonniger Morgen im Gegensatz zu 6000 Jahren? Nichts! Der Wunsch, in den Tempelanlagen von Mehinur zu verweilen, war grösser, als jedes Verlangen nach den Bequemlichkeiten eines Fünfsternhotels mit Swimmingpool, Bar und weich gefederten Betten.

 

Ich lehnte mit meiner ganzen Schwere am warmen Stein und schloss die Augen. Die schräg nach aussen gestellten Füsse rutschten durch mein Gewicht langsam auf den besandeten Bodenplatten nach vorn, der Rücken schabte an der Säule und plötzlich sass ich, unsanft erwachend, auf meinem Hintern. Ich wollte aufstehen, doch es ging nicht. Jemand oder etwas hielt mich fest, wie auf den Boden genagelt. Ein gewaltiger Schreck durchfuhr meinen Körper,mein Herz klopfte rasend. Ich war wirklich gefangen und das war nicht mehr rückgängig zu machen.

 

„Eindringling“ dröhnte es in meinem Kopf. Das Echo hallte hundertfach von den Mauern, doch nichts bewegte sich. Kein Wind strich über den Sand, kein Hund bellte, nicht der kleinste Käfer kroch über den Boden, nur die Sonne blendete unbarmherzig und trieb mir den Schweiss aus allen Poren.

 

„Eindringling“, hallte es wieder, „Eindringling!“

 

Ich versuchte, seitlich um die Säule zu rutschen, bis ich im Schatten sass. Das ging, doch mein Rücken klebte am Stein, unverrückbar, festgebunden, angepasst, und allmählich erstarrte ich zu Materie, mit der ich eins wurde, 6000 Jahre alt oder Millionen.

 

So, da hatte ich mir wieder etwas Besonderes eingebrockt. Rückgängig war das nicht zu machen. Ich atmete tief und begann, mich auf das Neue einzustellen. Um Leben und Tod wird es wohl nicht gehen, dachte ich und harrte der Dinge, die da geschehen sollten. Ich dämmerte vor mich hin und hatten nun Zeit, die Momumente in aller Ruhe zu betrachten. Ein Kissen unter dem Hosenboden wäre dabei allerdings nicht übel gewesen, denn gut gepolstert ist mein Hinterteil nicht mehr.

 

Ein leichtes Zittern der Erde riss mich aus meinen Gedanken. Die Steinblöcke des langen Gangs bewegten sich. Mächtige Säulen und Wände fielen, wie von Geisterhand bewegt, lautlos in die Mitte und zerbröckelten, zerflossen buchstäblich zu Sand. Dahinter öffnete sich ein aus groben Blöcken behauens Portal und helles Licht brach hervor in die Dämmerung der Säulenhalle, floss, wie ein sich bewegender Teppich, über den Boden, breitete sich aus, kam näher wie eine Schlange, den Schatten auffressend, in dem ich sass. Das Beben ergriff mich mit gewaltiger Stärke. Mir schwanden die Sinne.

 

Wie von ferne spürte ich, wie sich der Boden unter mir zu bewegen begann und einen weissen Nebel sah ich komme, in dessen Zentrum nur noch das Tor mit dem hellen, weissen Licht pulsierte, als wolle es gebären, freisetzen, was hinter ihm verborgen schien. Wie lange ich ohne Bewusstsein war, weiss ich nicht.

 

Als ich allmählich wieder erwachte, stand die Fremdenführerin vor mir, doch sie hatte nicht mehr die verwaschenen Jeans und die seidenweisse Bluse an, sondern einen eigenartig gewickelten Umhang mit dunkelroten, seltsamen Fäden und ihr helles Haar trug sie offen, über der Stirn mit einem goldenen Kamm gebündelt. Sie lächelte und zeigte mit der rechten Hand durch den langen Gang, hinter dessen Portal ich eine kleine Rundbogentüre erblickte, wieder offen, einladend, hindurchzugehen, im hellen Licht verschwindend, nie wieder gesehen, zeitlos geworden.

 

„Komm“, rief die Führerin, doch ich konnte nicht. Mein Rücken war Stein und der warme Wind, der zu wehen begonnen hattte, bedeckte meine Füsse und Beine und schon den Bauch bis zum Nabel mit glitzerndem, feinen Sand.

 

„Komm“, rief die Führerin wieder, „komme heraus, Eindringling, lass dich hier und folge mir, das kannst du!“

 

Es dauerte lange, auch wenn es vielleicht nur Minuten waren, bis ich begriff und gedankengetragen aus meinem kakifarbenen Overall schlüpfte. Es war mir peinlich, nackt vor der Frau zu stehen, doch sie lachte und musterte mich von oben bis unten.

 

„Zieh das an!“, rief sie und strich, ohne mich zu berühren, mit beiden Händen über meinen Körper, vom Kopf bis zu den Füssen, vorn und hinten. Den Duft, den sie um mich wickelte, werde ich nie vergessen. Dann zog sie blitzschnell einen raten Faden aus dem Saum ihres Kleides und warf ihn über mir in die Luft. Kaum berührte er meinen Scheitel, rieselte ein leichter, gleicher Umhang um meine Schultern, schlicht gearbeitet, mti roten Fäden durchzogen. Er flatterte, kühl fächelnd, mit dem Wind um meine nackten Beine.

 

„Geh“, sagte sie, „du darfst gehen, du bist aus der inneren Gefangenschaft ausgebrochen, frei und doch wieder gefangen. Willst du zurück, zieh einen roten Faden aus deinem Gewand.“ Sie tat es und war nicht mehr zu sehen.

 

Bevor ich mich aufmachte, schaute ich mich um. Kein leerer Overall war zu sehen, kein Sandhaufen, unter dem ich begraben sein könnte, keine Schuhe, keine Schirmmütze, nichts war mehr da von mir. Nur die Sonne blendete links und rechts der grossen Säule gleissend in den dunklen Schatten, der an den Rändern wie Diamanten glitzerte.

 

Ich fasste den Entschluss, vorwärts zu gehen. Meine Augen sahen anders. Jedes kleinste Detail konnte ich sehen, mannigfaltige Zeichen und Figuren in den Steinen und auf dem braunen Koloss einen langen, roten Faden, den ich mir um den Finger wickelte. Als ich den Block berührte, veränderte er seine Gestalt und ich bohrte mit dem Finger ein Loch wie in Butter. Ich griff unter einen grossen Quader, der vor mir im Sand lag und hob ihn auf. Sein Gewicht war das einer Feder und ich staunte. So als wurden vor Jahrtausenden Steine bearbeitet und bewegt; durch den Geist, der aus seiner Behausung schlüpfen konnte. Ich weiss nicht, war es eine Eingebung oder nicht, aber ich setzte mich rittlings auf eine Brüstung und schrieb mit dem Zeigefinger meinen Namen und das Jahr in den Stein, verzierte die Lettern mit Blumen und Girlanden, einer strahlenden Sonne und einem kleinen Stern. Ich war begeistert und plötzlich der Ueberzeugung, dass ich träumte; die Erkenntnis, im Traum zu träumen.

 

Haben sie das schon einmal erlebt? Man schwankt zwischen Traum und Erwachen, sofern das überhaupt geht. Ich kniff mich in die Höhe. Erwachen? Keine Spur. Etwas zog mich vorwärts.

 

Mühelos ging ich durch das grosse, aus groben Steinen gefügte Portal, durch einen aus zierlichen Würfeln geformten Garten mit Springbrunnen und herrlichen Figuren bis hin zu der kleinen Türe, durch die ich, leicht gebückt, hindurchgehen konnte. Als ich mein Haupt wieder erhob, stand ich in einem weiten Raum vor einer mächtigen Platte, in deren Mitte, kreisrund und erhaben, das Symbol der ewigen Sonne gemeisselt war. Die Halle leuchtete in sonderbarem Licht, obwohl nirgends eine Oeffnung zu sehen war, durch die die Sonne oder der Mond hereinscheinen konnten. Ein zarter Duft von Sandelholz und Mhyrte zog wie ein Schleier rund um mich herum und ich hörte von Ferne zarten, lieblichen Gesang in feiner Melodie. Wie verzaubert stand ich da, setzte mich mit verschränkten Beinen vor die Sonnenscheibe und lauschte der Musik. Ich schloss die Augen. Noch nie hatte ich eine so grosse Ruhe in mir verspürt, eine so tiefe Gelassenheit und ein so grenzenloses Vertrauen in die Dinge, die mit mir geschahen.

 

Als ich die Augen wieder öffnete, glänzte die Sonnenscheibe in purem Gold. Die mächtige Halle glitzerte in tausend Farben reinster Schönheit und von oben fiel ein heller Lichtstrahl genau vor meine Füsse. Ich erhob mich, wagte aber nicht, den Sonnenstein mit den Händen zu berühren. Ich wusste, er war heilig, durfte nicht angefasst werden, nur geschaut mit Augen und Seele. Rundum waren Zeichen in den Stein gemeisselt und ich las sie, als wäre es meine Sprache:

 

„Das Ende ist eider ein Anfang. Alles ist Kreis. Alles ist Licht. Alles ist eins. Du bist der Schlussstein, der den Bogen schliesst. Ohne dich ist er unvollkommen.“

 

Und dann sah ich, dass dort, wo die Schrift endete und wieder begann, ein Zwischenraum war, ausgefüllt mit einem kleinen Kreis, um den wieder und noch kleinere Zeichen gemeisselt waren:

 

''Das Kleine ist wie das Grosse, das Oben wie das Unten.“

 

Udn dort, wo diese Schrift endete und wieder begann, war ein geringer Zwischenraum, nur ein Punkt, so gering wie ein Sandkorn und um ihn war wieder eine Schrift, winzig klein, kaum noch lesbar, eingemeisselt mit den feinsten Nadeln, die ich mir vorstellen konnte: Ich entzifferte:

 

„Es ist kein Anfang, kein Ende, nur Licht und Liebe!“

 

Und nun sah ich, dass der Sonnenstein zwischen riesigen Lettern stand, Zwischenraum einer noch grösseren Schrift, die in mächtigem Bogen beidseits in unermessliche Höhe drehte.

 

Der Sonnenstein war zwischen dem ersten und letzten Zeichen der Zwischenraum, Anfang und Ende, doch diese Zeichen waren Türen. Die linke führte in eine kohlrabenschwarze Dunkelheit, die rechte öffnete sich in hellstes Licht, das sich in sieben und dann in zwölf Farben teilte, wie ein Regenbogen über einen Himmel schwang, sich mischend in die Melodie, die ich von weitem schon vernommen hatte und der ich nun lauschte. Ueber der Tür hing ein silberner Leuchter mit sieben hellen Lichtern. Ich beugte mcih über die Schwelle und war ergriffen von der Herrlichkeit dieses Weges. Weit in der Ferne, da, wo die zwölf Farben eins wurden, leuchtete ein heller, noch nie gesehener Stern. Auch in die Dunkelheit der linken Türe wollte ich sehen, in die gähnende Leere, den eiskalten, grenzenlosen Raum, aus dem die Urangst des Verlorenseins zischte. Ueber der Türe hing ein riesiges Schwert. Ich beugte mich über diese Schwelle, klammerte mich an die Steinsäule und steckte den Kopf in die Nacht. Augenblicklich war er wie nicht vorhanden, aufgesogen, und ich brüllte meine Angst in die gähnende Leere und da sah ich, dass sie vor mir zurückwich und weit hinten erblickte ich wieder einen hellen Stern.

 

Welcher Weg war zu gehen? Gewaltig brüllend, mit dem Schwert in der Hand, die Angst besiegend den Dunklen oder den Leuchter ergreifend, singend und fröhlich den hellen ? Oder war der Sonnenstein die goldene Mitte, war dort der eigentliche Weg?

 

Ich erinnerte mich meiner Kraft, Steine wie Federn bewegen zu können, tauchte meine Hände mutig in den Sonnenstein und ging hindurch. Geschehe was will, dies musste mein Weg sein; nicht die Entscheidung für Hell oder Dunkel, sondern für die Mitte, die mir Weg und Ziel zu verbergen schien.

 

Ich hatte etwas geschaut, doch fühlte ich, dass ich zurückfinden musste in eine Begrenztheit mir vertrauter udn erfassbarer Dinge, Menschen, Liebe und Leben. Das musste der goldene Weg sein durch den Sonnenstein.

 

Durch diese verborgene Tür ging ich hindurch und lief geradewegs in die Arme einer alten, gutmütig und doch geheimnisvoll lächelnden Frau. Ihr Gesicht war von Runzeln übersät udn um die stahlblauen Augen zuckten Lachfältchen in der lederbraunen Haut. Ich war aus dem Heiligtum auf die Erde zurückgekehrt und atmete tief die frische Luft.Doch vor mir war wieder eine Mauer, aus grossen Quadern dicht gefügt und auch der Boden war aus riesigen Platten, dicht an dicht verlegt, sodass kein Strohhalm in die Ritzen zu stecken war.

 

„Komm, hier darfst du nicht stehenbleiben“, murmelte die Alte und strich mir über die schweissnassen Haare. Sie nahm mich am Arm und führte mich durch einen gewundenen, von aussen unsichtbaren Gang durch die Mauer.

 

„Nun beginnt der Weg nach vorn zu Ende und Anfang“. Sie umarmte mich und legte mir gleichzeitig etwas Weiches um den Hals.

 

„Da drin“, lachte sie, „ist das, was du von hier mitnehmen darfst und das dich von nun an begleitet. Ein Strahl der Sonne, ein Schein des Mondes, ein Glitzern deines Sterns, ein Körnchen Wahrheit, ein Hauch Erkennen, Weisheit und Erinnerung.“

 

„Ich danke Dir“ murmelte ich, und nahm den feinen, ledernen Beutel in meine Hände. Er war warm und roch nach Erde. Die Alte führte mich am Arm weiter und drehte mich um.

 

„Schau noch einmal“, sagte sie.

 

Ich sah nur die Bogenstüre, durch die wir gekommen waren. Ein heller, blauer Schein umhüllte sie und daneben sprudelte ein kleiner Bach aus einer Oeffnung am Boden. In die riesige Steinplatte, auf der wir standen, war eine glatte Rinne gehauen, durch die das Wasser an uns vorbeischoss, sich in Arme teilte und wieder teilte, nach rechts, nach links, nach vorn über den grossen Platz, der rundum von schlichten und doch schönen Häusern eingerahmt war. Ein geschäftiges Leben war hier. Mitten im bunten Treiben stand ich; Mensch unter Menschen, wieder gefangen und doch frei; in herzlichem Leben und doch auf der Wanderschaft, meiner Bestimmung entgegen, die ich tief in meiner Seele zu ahnen begann. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht mehr von der Vergangenheit hinausgestossen ins Leben, sondern angezogen von einer unsichtbaren Kraft. Was hinter mir lag, hatte an Bedeutung verloren. Die Vergangenheit war ausgelöscht. Was zog mich an? Und wieder hörte ich das Singen?

 

Die kleine, weisshaarige Frau lachte. „Gar nicht so übel, deine Gedanken. Schau dir das Wasser genau an und höre meine Worte. Das Wasser jedes Menschen hat seine Rinne. Du bist wie eine kleine Feder, die darauf schwimmt. Es ist kein Zufall, wenn zwei Menschen sich begegnen und sich wieder verlieren. Es ist alles angelegt und doch muss jeder etwas dazu tun.“

 

„Kann ich denn etwas dazutun?“ fragte ich sie und malte mir aus, wie zwei kleine Federn auf zwei Bächen schaukeln und es doch schier unmöglich ist, dass sie sich dort gerade treffen, wo die Wasser zusammenfliessen und wie leicht sie sich wieder verlieren, verpassen. Sollte das Leben sein?

 

„Doch, du kannst etwas dazu tun“, antwortete sie, „du kannst dir keine Sorgen machen um die Zukunft. Du kannst dich nicht grämen über das Vergangene und du kannst Vertrauen haben und schauen, wo du entlangschwimmst. Du kannst in deiner andauernden Gegenwart leben, sehen und lernen und erkennen, dass es gerade die grossen Steine waren, die dich so lange aufgehalten haben, dass du einmal nicht an der Feder vorüberschwimmst, die auf dem Weg ist wie du. Wisse, was du in deinem Herzen gefunden hast, das kannst du nie mehr verlieren.

 

''Das ist schwer zu überblicken“, antwortete ich besorgt.

 

„Das ist es, was du auch noch tun kannst“, antwortete die Frau, „übe, aus deiner Behausung hinauszugehen, um den Ort zu finden, wo du alles überschauen kannst. Dann wirst du über dich selbst lachen und glücklich sein und du wirst die Menschen erkennen, die dich begleiten udn die du begleitest. Du wirst dort etwas finden, das über das Ende hinaus bleibt wie eine Silberschnur, die zwei Menschen verbindet. Und du weisst, wie du die schweren Steine bearbeiten und wie du sie bewegen kannst.“

 

Wir gingen den Wasserrinnen entlang über den weiten Platz. Kinder tummelten sich, lachten und kreischten, hüpften und sangen, machten ihre Spiele oder lagen am Boden. Eselskarren zogen vorüber, Frauen trugen Taschen mit Früchten, Wasserkrüge auf dem Kopf, die sie an dem grossen Brunnen in der Mitte füllten. Alte Männer sassen auf Stühlen vor den Häusern, plauderten oder schwiegen udn schauten den Kindern zu.

 

Die Frau gesellte sich zu ihnen. „Geh dort in das Haus“; sagte sie mir, „du wirst Hunger haben und müde bist du auch von deiner langen Reise. Auf Wiedersehn!“

 

Die Männer lachten, als sie mich sahen. Kinder eilten herbei, und die vielen Frauen umringten mich neugierig kichernd. Sie fassten mein Gewand und begannen emsig, die roten Fäden herauszuziehen. Sie scherzten und lachten und hundert Hände hielten mich fest.

 

„Warum lacht ihr?“, fragte ich, „lacht ihr mich aus? Und warum zieht ihr die Fäden aus meinem Klied, bis ich es verliere und nackt vor euch stehe?“

 

„Wir freuen uns, dass du gekommen bist. Wir lachen immer, wenn jemand kommt. Lache auch! Diejenige, die den letzten Faden aus deinem Gewand zieht, wird mir dir gehen, denn sie hat schon lange auf dich gewartet.

 

Als ich in ihre verschmitzten, weisen Gesichter blickte und ihr herzliches Lachen über mich rieseln liess wie frisches Wasser, überkam es auch mich. Ich lachte, wie ich noch nie lachen konnte.

 

Plötzlich hielten sie inne. Ein Faden steckte nur noch in meinem Kleid udn keine wagte es, ihn herauszuziehen. Sie stoben auseinander und alle gingen wieder ihren Verrichtungen nach. Keine blickte zurück, keine kicherte mehr, selbst die Kinder taten so, als hätte ich mich in Luft aufgelöst.

 

„Was soll das“, fragte ich die alte Frau, „warum den letzten Faden nicht?“

 

Sie schmunzelte. „Die kleine Feder ist noch nicht da, schwimmt auf ihrem Wasser. Du wurdest aufgehalten, damit ihr euch finden könnt. Geh jetzt. Auf Wiedersehn!“

 

Ich ging auf das Haus zu,das mir die Alte gezeigt hatte. Es war mir, als ginge ich nach Hause, als wäre ich schon tausend Mal die steinernen Stufen hochgegangen, als hätte ich schon oft dieses freudige Klopfen in meiner Brust gespürt und als riefe mich schon unendlich lang jemand beim Namen, am Balkon stehend, mir zuwinkend, entgegengehend mit ausgebreiteten Armen.

 

Oben an der Türe hing in weissem Blumenkranz ein Blatt Papier. „Ich habe dich erwartet, wo treffen wir uns?“ stand darauf und darüber war ein kleiner Regenbogen gemalt.

 

„Auf der Brücke, wenn die Sonne untergeht!“ schrieb ich darunter und stieg wieder die steinernen Stufen hinunter, um die Brücke zu suchen, die über unsere Wasser führt. Noch nie hatte ich sie gesehen, doch in meinem Herzen war sie angelegt seit tausenden von Jahren, um sie endlich zu finden.

 

Ich schlenderte durch die Stadt, beschaute mir alle Häuser, die herrlichen Tempel, die Gärten und weiten Alleen, die hinausführten in ein wunderbares Land. Als der Abend kam, sah ich die Brücke. Mächtige Steinbogen überspannten die zwei Flüsse, die sich hier vereinigten. Gemächlich ging ich in die Mitte. Ueber dem Horizont versank langsam die goldene Sonnenscheibe in das weite, blaue Meer. Ich schloss die Augen und hörte Schritte. Nichts war mehr so, wie es war. Ich fühlte die Grenzenlosigkeit aus meiner Seele emportauchen, sich entfalten wie ein Schmetterling; zum Fliegen bereit, gewärmt von der Sonne der Liebe und das Grosse in mir begann zu leben. Strahlende Augen begegneten mir und wir schlossen uns in die Arme, endlich vereint nach 6000 Jahren oder mehr. Es war ein Wiedersehen, als hätten wir uns nie verloren.

 

Und in dieser Nacht lernte ich viel. Zum ersten Mal flog ich über die Dächer der Stadt, sah mich und das Leben von oben und schauten den Traum, der in mir lebt; den Stein der Bestimmung, leicht und mit meinen Händen und meinem Geist formbar, wenn ich den Mut habe, über die selbstgebauten Grenzen in die Grenzenlosigkeit hinauszugehen, Macht und Zwang hinter mir zu lassen und das zu leben, was ist und mir begegnet.

 

Was verschwommen war, wurde klar. Was begrenzt war, wurde frei.

 

Gemeinsam gingen wir zu dem Haus, das mir die weise Frau gewiesen hatte. Als wir unsere Amulette öffneten, fanden wir darin zwei weisse, kleine, gleiche Federn und als die Nacht kam, trug sie der Wind voraus in eine neue Welt. Wir zogen uns den letzten roten Faden aus dem Gewand.

 

Als auf dem Markt das Treiben der Händler begann, erhoben wir uns vom Lager, hängten die Tücher über die Leine, brauten uns Kaffee und erzählten, was in uns seit 6000 Jahren war.

 

Die gemeinsame Erinnerung wurde zum Leben und zur Ahnung der Lichtmelodie, die wir gesucht und zu der wir aufgebrochen waren. Als die Sonne aufging, traten wir gemeinsam ans Fenster. Die Scheiben waren reifbeschlagen, so kalt war es in der Nacht. Wir schabten uns in die Freiheit, öffneten uns den Blick in die mannigfaltige und farbenfrohe neue Erde und zu den Menschen, mit denen wir lebten. Durch klares Glas hinausschauend über unsere Grenzen, hinausgeschleudert aus der eigenen, inneren Gefangenschaft, aus der Begrenztheit des Lebens in die Grenzenlosigkeit des Seins und der Liebe.

 

Und das Ende war ein neuer Anfang.

 

Als wir nach Jahren zu den Tempelanlagen von Mehinur zurückkehrten, fanden wir, in Granit gemeisselt, meinen Namen und gingen gemeinsam nochmals den gleichen Weg. Wir schrieben Deinen Namen dazu, um sie nach tausenden von Jahren wieder zu finden und zu wissen, dass wir uns immer wieder begegnen.